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"...l'isolement et la stérilité intellectuelle dans laquelle je m'y trouve.." - ein französischer Literat am Hof des Petrsburger Großfürsten

Justin Maurice, französischer Schriftsteller (1810-1849), eigenhändiger Brief mit Unterschrift an Pierre-Simon Ballanche (1778-1847), St. Petersburg o. J. [Poststempel 8. April 1841 ].
Französische Handschrift auf Papier, ca. 21,7 × 13 cmm, 3 SS. auf 2 Bll. Öffnungsbedingt kleine Randausrisse (minimaler Textverlust). - € 450

Sehr gehaltvoller privater Brief von Maurice, der damals für mehrere Jahre als Erzieher der Kinder des russischen Großfürsten Michael Pawlowitsch Romanow (1798-1849) in Petersburg weilte. Sehr eindringlich schildert er seine Einsamkeit im kalten Petersburg, wo er unter dem langen Winter, vor allem aber unter der Isolation und der intellektuell wenig fruchtbaren Umgebung leidet ("isolement et la stérilité intellectuelle dans laquelle je m'y trouve."). Er fühlt sich allein und verloren ("isolé et perdu") und nur die Güte der Großfürstin - Elena Pawlowna - halte ihn hier ("je n'aime ici person et si ce n'était la bonté de Madame la Gd. Desse., je n'y resterais"). - Höchst interessant sind auch Maurices Äußerungen zu den erneut gescheiterten Asprirationen Ballanches auf einen Sitz in der Académie française. Ballanche, der mehrfach für einen Sitz kandidiert hatte, jedoch u. a. gegen Victor Hugo unterlag, sollte erst im Folgejahr 1842 Akademiemitglied werden. Nach dem Tod des konservativen Philosophen Louis-Gabriel de Bonald (1754-1840) hat Ballanche für dessen Sitz kandidiert, musste sich letztendlich aber dem Dramatiker Jacques Ancelot (1794-1854) geschlagen geben, der am 25. Februar 1841 gewählt wurde. Maurices' Kommentar läßt erkennen, dass er wenig hielt von Bonald und Ancelot, dem er die Lektüre der gegenüber Bonald sehr kritischen Literaturgeschichte von Marie-Joseph Chénier (1764-1811) nahelegt. Dass Ancelot und nicht Ballanche den Akademiensitz erhalten habe, bedauere er zutiefst, wie im übrigen auch Barante (Amable Prosper de Barante, 1782–1866, französischer Botschafter in Petersburg und seit 1828 Akademiemitglied). - Auch um das Wohlergehen seiner alten Freundin und Gönnerin, der Salondame und Literatin Julie Récamier (1777-1849) zeigt sich Maurice besorgt. Er wünscht ihr beste Gesundheit und hofft, dass sie nicht auch durch die Affäre Lehon Schaden genommen habe. - Jacques François Lehon, ein angesehener und vielbeschäftiger Pariser Notar, der nebenbei eine Bank betrieb, ging 1841 bankrott, hinterließ eine Schuldenlast von bis zu 7 Millionen Francs und verursachte damit einen der größten Pariser Finanzskandale des 19. Jahrhunderts. Wie wir nun von Maurice erfahren, scheint auch Julie Récamier Einlagen bei Lehon gehabt zu haben. Weiterhin erwähnt Maurice Mme. d'Hautefeuille (Anne-Albe Cornélie de Beaurepaire, Comtesse Charles d'Hautefeuille, 1789-1862), deren 'Jeanne d'Arc' er gerne lesen würde, sendet Grüße an "tous ceux de l'abbaye" (L'Abbaye-aux-Bois, ehemaliger Pariser Zisterzienser-Konvent in der rue de Sèvres, wo Mme. Récamier zwischen 1819 und 1849 wohnte und ihre berühmten Salonzusammenkünfte abhielt), insbesondere, an Mme. Lenormant (Amélie Cyvoct, 1803-1893, Nichte und Adoptivtochter von Julie Récamier), Mr. Ampère (Jean-Jacques, 1800-1864) und Mr. David (Paul-Jacques, 1778-1860, Neffe von Julie Récamier)
- Justin Maurice (1810-1849), gebürtig aus dem Agenais, war in Paris als Journalist und Schriftsteller tätig. Seine seinerzeit vielbeachteten Gedichtsammlungen "Pensées du Ciel et de la Solitude" (1833) und "Au pied de la Croix" (1835) brachten ihm enge freundschaftliche Beziehungen mit dem Gelehrten- und Literatenkreis um Julie Récamier ein. Insbesondere in dem Philosophen Pierre-Simon Ballanche (1776-1847) fand er einen väterlichen Freund und Gönner. Ballanche war von Maurices' schriftstellerischem Talent sehr angetan, hielt aber seine Energie nicht für ausreichend, um die notwendige Erneuerung der französischen Lyrik zu schaffen und ein "Savonarole en poésie" zu werden, wie Frankreich ihn jetzt benötige (Brief an Mme. d'Hautefeuille, ed. Marquiset 158f.). Die ständigen Geldnöte von Maurice, der sich von Ballanche immer wieder Geld leihen musste, endeten 1840, als der junge Literat in die Dienste des russischen Großfürsten Michael Pawlowitsch Romanow trat. Dessen Gattin, Großfürstin Elena Pawlowna, geb. Charlotte von Württemberg (1807-1873), die als außergewöhnlich intelligent galt, wirkte in Petersburg als Mäzenin. Sie gründete das dortige Konservatorium und unterhielt Künstler wie Anton Rubinstein an ihrem Hof. Da sie selbst in Paris - u. a von Georges Cuvier - erzogen worden war, verpflichtete sie für die Erziehung ihrer Kinder mit Justin Maurice eine wichtige Figur des Pariser Gelehrtenmilieus. Maurice, der die Großfürstin in Wiesbaden traf und in ihrem Gefolge im November 1840 nach Petersburg reiste, empfand die folgenden fünf Jahre, während derer er in russischen Diensten blieb, wie ein Exil. Sehr drastisch bringt Maurice seine bitteren Erfahrungen in einem vom 9. Mai 1841 datierenden Brief an Ballanche [Paris, Bibliothèque Nationale, Naf 14092] zum Ausdruck, in dem er den russischen Autoritarismus, die Sklavenmentalität der Untertanen und die völlige Militarisierung der dortigen Gesellschaft heftig kritisiert. Russland sei ein Feldlager, St. Petersburg eine Kaserne ("La Russie n'est qu'un camp. Saint-Petersbourg une caserne et une école militaire."). Diese offene Kritik von Maurice war nur möglich, weil er die russische Zensur umging. Im vorliegenden Brief vom April 1841 teilt Maurice Ballanche mit, dass er ihm bereits seit zwei Monate damit durch einen Landsmann einen Brief überbringen lassen will, da sich dessen Abreise jedoch ständig weiter verzögere, schickte er den Brief per Post. Da diese von den russischen Sicherheitsbehörden kontrolliert wurde, ist seine Kritik an Russland deutlich gemäßigter als in jenem Botenbrief des Folgemonats, der heute in der Pariser Nationalbibliothek verwahrt wird. Es scheint, dass Ballanche beide Briefe von Maurice gleichzeitig im Juni 1841 empfangen hat ("J'ai reçu, à la fois deux lettres de Justin Maurice qui me dit tout ce qu'il est possible de dire au sujet de ses amis.", Brief an Mme. d'Hautefeuille vom 16. Juni 1841, ed. Marquiset 186). - Seine Erfahrungen wollte Maurice nach seiner Rückkehr in "La Russie en 1845"verarbeiten, das aber krankheitsbedingt unvollendet blieb. In Paris wurde er damals Herausgeber der Zeitschrift "L'Ere nouvelle" und gab sich Träumen der Gründung eines journalistischen Bruderordens hin, sein früher Tod im Jahr 1849 verhinderte jedoch, dass er seine Ideen weiter vorantreiben konnte. - Lit.: Alfred Marquiset, Ballanche et Mme D'Hautefeuille. Lettres inédites de Ballanche, Chateaubriand, Sainte-Beuve, Mme Récamier, Mme Swetchine, etc., Paris 1912; Agnès Kettler Lettres de Ballanche à Madame Récamier 1812-1845, Paris 1996.